Diskussion mit Prof. Oskar Negt
Zum Thema "Wozu noch Gewerkschaften" hat Prof. Oskar Negt im Juli 2004 eine kleine Streitschrift verfasst, die sich mit den erforderlichen und möglichen Antworten der Gewerkschaften auf die großen wirtschaftlichen Veränderungen (Stichwort: Globalisierung der Devisen- und Finanzströme) und der damit einher gehenden kulturellen Erosionskrise (Stichwort: Änderung der Wertvorstellungen) der letzten Jahre auseinandersetzt. Im Referat erläuterte Oskar Negt insbesondere Themen wie:
- Begriff der Gerechtigkeit
- Sozialstaat als Fundament der demokratischen Gesellschaftsordnung
- Gefahren der Polarisierung von Armut und Reichtum
- Menschenwürde kontra "Ich AG"
- Betriebswirtschaftliches Denken als zunehmende Belastung des Gemeinwesens
Oskar Negt rät den Gewerkschaften dringend, durch Erweiterung der politischen und kulturellen Aktivitäten den in den letzten Jahrzehnten gewaltig angewachsenen Angstrohstoff in den Kreisen der abhängig Tätigen zu verringern:
- Gewerkschaften müssen autonome Organisationen der Lebensinteressen aller abhängig Tätigen sein. Statt Verengung des Interessenbegriffs durch betriebswirtschaftliche Denkmuster rät er den Gewerkschaften eine Erweiterung ihres kulturellen und politischen Mandats. Statt Einengung und Anpassung an die Kapitallogik müssen sie für größere Freiheit und für persönliche Selbstbestimmung aller abhängig Tätigen eintreten.
- Gewerkschaften dürfen sich nicht als Interessenvertreter der Arbeitsplatzbesitzer missbrauchen lassen und sie dürfen auch nicht in defensiver Verteidigungshaltung erstarren. Sie dürfen ihre ganze Kraft nicht nur für die Rationalisierungsverlierer einsetzen, auch die Emanzipationsbedürfnisse der Aufsteiger und Gewinner bedürfen kollektiver Organisation.
- Die Gewerkschaften müssen den Menschen dorthin folgen, wo sie sich in ihrem Alltag hauptsächlich aufhalten, wo sie mit Gleichgesinnten kommunizieren und eine eigene Kultur der Vergesellschaftung entwickeln. Durch die kreative Einbeziehung außerbetrieblicher Interessenkonstellationen ist auch die Bewältigung der erweiterten Aufgaben sichergestellt.
- Die Gewerkschaften benötigen neben dem betrieblichen auch ein außerbetriebliches Standbein!
Durch ein Referat des SPD-Landtagsabgeordneten Claus Wichmann war auch das Themenfeld "SPD und Gewerkschaften" in die Diskussion eingebracht worden.
Mirko Geiger führte aus, dass die IG Metall Heidelberg bereits erfolgreich dabei ist, sich in Richtung "Mitgliedernähe und kürzere Wege für die ratsuchenden Menschen" zu bewegen. Dies belegt die jüngst erfolgte Eröffnung der IG Metall Büros Mosbach (Sommer 2005) und Sinsheim (Januar 2006).
Dass sich für diese öffentliche Diskussionsrunde am Freitag Abend über 120 engagierte Heidelberger Bürger Zeit genommen und sich auch rege an der Diskussion beteiligt haben, zeigt, dass die Verantwortung für die Entwicklung unserer Demokratie nicht nur den beruflichen Politikern und Gewerkschaftern überlassen wird.
Letzte Änderung: 21.03.2013